„Wir können alle schlagen“

Aleksandrs Starkovs, Trainer des deutschen EM-Vorrundengegners Lettland, über mangelnde Qualität als Vorteil, Fußball als identitätsstiftende Maßnahme und die Pläne seines Frisörs

INTERVIEW TOBIAS SCHÄCHTER

taz: Herr Starkovs, als sich Lettland für die EM qualifizierte, erklärte die lettische Presse Sie und Ihre Spieler für unsterblich. Wie lebt es sich als Unsterblicher?

Aleksandrs Starkovs: Wissen Sie, es gibt zwei Arten von Menschen: Die einen kommen als Genie auf die Welt, die anderen, zu denen ich mich zähle, müssen sich alles stufenweise erarbeiten. Ich habe Jugendliche trainiert, bin seit 12 Jahren Trainer bei Skonto, seit 1995 Assistenztrainer der Nationalmannschaft und nun seit drei Jahren Nationaltrainer. Ich bin der, der ich bin.

Sie sind also erst ein Genie geworden?

Danke schön. Zwei Jahre habe ich in Moskau an der Trainerakademie studiert und mir so einen wissenschaftlichen Zugang zum Spiel verschafft. Nun kann ich also auch mit ernsten und gebildeten Spielern arbeiten.

Ihr Erfolg ist gründlicher Ausbildung, harter Arbeit und ihrer Erfahrung geschuldet?

Nein! Er basiert nur auf genialen Einfällen.

Sie lachen. Ist Fußball Arbeit oder Spaß?

Fußball ist ein Spiel.

Bei dem die richtige Taktik den Ausschlag gibt?

Die Taktik hängt von den Fähigkeiten der Spieler ab. Beim 1:0 gegen die Türkei in Riga wurde ein Türke vom Platz gestellt, doch wir behielten die Taktik bei.

Die da lautete: Hinten dicht, und vorne hilft der liebe Gott, der in Lettland Maris Verpakovskis heißt?

Die Taktik ist sehr wichtig. Vor jedem Spiel erkläre ich meinen Spielern mindestens eine Stunde unsere Taktik. Alle Mannschaften haben auch schwachen Seiten. Aufgabe des Trainers ist es, seine Spieler von den Schwächen des Gegners zu überzeugen.

Was ist entscheidend: Der Einzelspieler oder die Taktik?

Lettland verfügt nicht über Stars der ersten Kategorie. Das muss aber kein Nachteil sein. Ich muss nicht wie meine Kollegen Stars kontrollieren oder gar meine Taktik nach ihnen ausrichten. Unsere Stärke steckt im Teamgeist, und die Taktik steht an erster Stelle, weil man mit ihrer Hilfe die Nachteile, die ein Land wie Lettland gegenüber etablierten Nationen wie Deutschland oder Holland hat, ausgleichen kann. Aber ohne qualifizierte Leute kann natürlich die Taktik nicht funktionieren. Der Trainer ist nichts ohne seine Spieler.

Sie haben diesen Erfolg an der Taktiktafel ausgetüftelt?

Niemand hat uns folgende Aufgabe zu stellen gewagt: Gewinnt gegen die Türkei, und fahrt zur EM! Intern aber haben wir uns diese Aufgabe gestellt. Wir haben das Spiel der Türken analysiert. Es war klar: Sie sind stärker als wir. Aber wir haben uns gesagt: Warum sollen wir sie nicht schlagen können? Spieler mit großen Zielen können über sich hinauswachsen, und das ist uns in der Qualifikation gelungen.

Was bedeutet der Erfolg der Fußballer für das Land?

Fußball hat in Europa einen großen Stellenwert und gehört zur kulturellen Identität vieler Länder. Wenn also ein kleines Land wie Lettland sich in diesem Bereich präsentiert, wird man von den andern plötzlich bemerkt.

Und was bedeutet die EM für den Fußball in ihrem Land?

Wir sind wie Staatsmänner empfangen worden, und jedem Spieler wurde von unserer Staatspräsidentin persönlich gratuliert. Auch Geschäftsmänner investieren zunehmend in den Fußball. Mehr Leute kommen zu den Erstligaspielen. Und am wichtigsten: Die Eltern schicken ihre Kinder zum Fußball.

In Riga ist von Euphorie nichts zu spüren. 600 Zuschauer beim Spiel Skonto gegen den FC Riga. In den Sportgeschäften liegen kaum Fußballtrikots aus.

Lettland hat nur 2,4 Millionen Einwohner. Wir stehen erst am Anfang. Nach Portugal werden uns schätzungsweise 3.000 Fans begleiten. Das ist für lettische Verhältnisse sehr viel.

Hat die Zurückhaltung auch damit zu tun, dass die Sprache des Fußballs Russisch ist und das Verhältnis der Letten zu den in ihrem Land lebenden Russen historisch belastet ist?

Das stimmt. Eishockey und Basketball sind tiefer in der Kultur Lettlands verwurzelt. Aber vielleicht können wir durch unser Auftreten in Portugal dazu beitragen, das schwierige Verhältnis zwischen den beiden Gruppen zu lockern. Es wäre schön, wenn durch den Fußball in Lettland eine gemeinsamen Identität entstehen könnte.

Ist dieser Erfolg einmalig?

Die EM-Teilnahme ist für uns nicht selbstverständlich. Wenn wir uns für die WM in Deutschland qualifizieren sollten, wäre auch das wieder ein Wunder.

Wird der lettische Fußball nun respektiert?

Zumindest werden wir jetzt sehr höflich und respektvoll begrüßt. Für die anderen lohnt es sich jetzt, uns zu besiegen. Und die Esten fragen sich: Warum haben die Letten das geschafft und wir nicht? (lacht)

Das haben Sie geschafft mit dem als Roboterfußball verunglimpften Stil der russischen Fußballschule.

Ich möchte die Einflüsse Russlands nicht beiseite schieben, aber auch nicht betonen. Am besten gefällt mir der italienische Fußball. Durch seine spielende Verbindung von Athletik, Technik und Disziplin kommt er meiner Vorstellung vom perfekten Spiel sehr nahe.

Einige in Ihrem Kollektiv drohen nun zu Stars zu werden. Ein Gefahr für das System?

Ich wüsste wenig über die Menschen, wenn ich diese Gefahr nicht sehen würde. In der Mannschaft merke ich allerdings davon nichts. Ich verwende viel Zeit darauf, mit welchen Emotionen in Spiel anzugehen ist. Einen Spieler, der in Portugal nur eine schöne Zeit haben will, denn nehme ich ihn nicht mit. Die Bereitschaft, alles zu geben für die Mannschaft und deren Erfolg, dieser Charakterzug ist wichtiger als Talent. Die Deutschen sind in diesem Punkt Vorbilder. Vielleicht ist ihr Spiel nicht so schön, aber die Resultate stimmen fast immer. Und bei einer Nationalmannschaft steht das Ergebnis über allem anderen. Es geht schließlich auch um das Prestige des Landes.

Ein Nachteil ist, dass Sie nun ernst genommen werden.

Wir können nicht erwarten, weiter unterschätzt zu werden. Vielleicht unterschätzen uns die gegnerischen Spieler. Vielleicht. Aber die Trainer bestimmt nicht. Ja, das ist ein Nachteil für uns. Aber viel wichtiger ist: Wir haben verstanden, dass wir nicht zu den Favoriten gehören. (schmunzelt)

Das klingt nach gnadenlosem Catenaccio?

Lettland spielt so, wie es für Lettland am besten ist. Wir haben uns entwickelt: In der Qualifikation Polen hinter uns gelassen, die Schweden besiegt und die Türken geschlagen. Unsere Spieler haben jetzt ein größeres Selbstvertrauen und die Mannschaft ist mental und physisch stärker geworden. Wir werden also in Portugal stärker sein als noch vor einem Jahr.

Stark genug, um Deutschland, Holland und Tschechien zu schlagen?

Wir können alle schlagen, selbstverständlich auch Deutschland. Sie dürfen nicht vergessen: Jedes Spiel beginnt bei 0:0.

Nach der Qualifikation ließen Sie sich die Haare golden färben. Was passiert denn, wenn Sie das Viertelfinale erreichen?

Lettische Journalisten haben mich gefragt, ob ich mir nach einem Weiterkommen eine Glatze schneiden lassen will. Ich habe zugestimmt. Schließlich will ich, dass mein Frisör Arbeit hat.

Und Sie wären endgültig unsterblich!

Nein! Ich wäre nur meine Haare los.